weil in den Medien so ein grandioser Unsinn berichtet wird, hier der Versuch einer nüchternen Einordnung.
Bei der verunglückten Standseilbahn handelt es sich um eine Zwei-Wagen Bahn. Die beiden Wagen sind über ein Umlenkseil miteinander verbunden. Der Antrieb der Wagen erfolgt elektrisch über Oberleitung, ähnlich einer konventionellen Straßenbahn. Durch die Kopplung über das Seil erfolgt ein Massenausgleich.
Das bergauf fahrende Fahrzeug wird von einem Fahrer gesteuert und ist angetrieben. Das bergabfahrende Fahrzeug wird mit einem Bremser besetzt und nur gebremst.
Es ist eine mechanische und eine pneumatische Bremse in jedem Fahrzeug. Die Synchronisation von Fahrer und Bremser erfolgt über die vorhandene Seilspannung und erfordert viel Erfahrung.
Zum Unfall kam es, weil das Seil des oberen Wagens beim Anfahren aus der Seilaufnahme herausriss. Das abgerissene Fahrzeug beschleunigte auf der abschüssigen Strecke auf 60 km/h und entgleiste mit den bekannten Folgen.
Da die Antriebs- und auch die Bremsanlage nur auf das Differenzgewicht der Wagen ausgelegt war, war der Wagen trotz angelegter Bremsen nicht mehr zu stoppen.
Das System ist so ausgelegt, dass ein Seilriss immer zu einem schweren Unfall führt. Es gibt hier keinerlei Redundanz. Die Sicherheit des Seils wird ausschließlich durch Ersatz des Seiles nach vorgegebener „Ablegezeit“ und Prüfung des Seiles in bestimmten Fristen nach vorgegebenen Methoden gewährleistet.
Jetzt kommt das Fatale: Für Seile ohne Redundanz gelten bei Personenbeförderung sehr hohe Prüfaufwendungen. (permanente Kontrolle durch magnetische Verfahren, Röntgen in Fristen…intensive tägliche Sichtkontrolle) Die verunglückte Bahn hatte keine dieser Einrichtungen, die Seileinführstelle ist wohl nichteinmal ohne Demontage sichtbar.
Meine persönliche Einschätzung: Bei den sicherlich immer wieder erfolgten Überprüfungen der Sicherheit der Bahn und Anpassung an die geltenden Vorschriften, wird man für die Sicherheit des Systems die an jedem Wagen vorhandenen Bremsen als Rückfallebene definiert haben. Dass die Bremsen nur für das Differenzgewicht der Wagen ausgelegt waren, ist offensichtlich über die vielen Generationen verloren gegangen. Mit fatalen Folgen……
Ich habe versucht die Sachverhalte aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen. Bitte nur ergänzen oder berichtigen, wenn sachliche Fehler vorhanden sind.
Mutmaßungen und Meinungen und Gefühle gibt es im Netz schon genug.
weil ich über PN Zweifel an meinen Angaben zur Bremse der Bahn gemeldet bekam, hier folgende technische Ergänzung:
Im Rad Schiene System können Steigungen bis max 10% überwunden werden. Darüber wird das System instabil. Selbst blockierte Räder können die Kräfte nicht mehr sicher übertragen und rutschen weiter.
Die Debatte über Bremsen ist aber hinfällig, wenn es keine Zangenbremsen waren. Ich kann mir das ehrlicherweise nicht vorstellen, dass die Bahn tatsächlich kein echtes Bremssystem hatte, was darauf ausgelegt war, die Wagen in der Steigung zu halten.
Ich möchte jetzt nicht in der Haut der Verantwortlichen stecken.
Zangenbremsen bei im Strassenpflaster verlegten Vignolschienen? Wie soll das gehen?
Sicherheit ohne Redundanz in ein technisches Bauteil zu verlegen, ist nicht ungewöhnlich. Es muss aber sichergestellt werden, dass ein Versagen unwahrscheinlich ist. Es gibt hunderte von Seilbahnen, die bei Seilriss einfach abstürzen würden.
Wenn ein Ingenieur die Aufgabe bekäme, z. B. eine Zangenbremze zu installieren, dann würde ihm schon was einfallen. Notfalls eben nicht mit Vignolschienen. Die Bahn hat einen eigenen Fahrweg.
Das aufgefaserte Ende des Kabels hat mir schon sehr zu denken gegeben. Da dürfte etwas Grundsätzliches nicht richtig gemacht worden sein. Z. B. eben bei der täglichen (?) Sichtkontrolle.
ich habe alles beschrieben. Auch die Situation der Seileinführstelle, die ja versagt hat. „Sie ist ohne Demontage nicht prüfbar“ heißt es.
Alles Weitere sind Spekulationen und Wünsche.
Ich könnte da auch noch spekulieren:
Der untere Triebwagen fährt an, der obere ist noch gebremst, die Seilspannung geht auf 0, der obere löst die Bremse und fällt in das entspannte Seil in diesem Moment muss der untere Wagen bremsen….knack….
Mittlerweile gibt es einen vorläufigen Bericht der Unfalluntersuchungsbehörde (englische Version). Darin wird auch das Bremssystem beschrieben. Es gab wohl eine Art Fangbremse, die von oben und unten auf die Metallprofile des Seilkanals wirkten. Auf Bildern ist aber ersichtlich, dass dieser hinter dem verunglückten Wagen aufgerissen wurde. Es kann also sein, dass diese Bremse nicht mehr wie vorgesehen funktionierte.
Hier eine Zusammenfassung des Berichts:
Bremser und Fahrer sind übrigens die gleichen Personen, im Bericht werden sie "driver (called "guarda-freio” - brakeman)" genannt. Es ist übrigens auch nicht so, dass die Wagen unabhängig voneinander fahren können: Die beiden Wagen (cabinas) sind elektrisch miteinander verbunden (die je zwei Motoren pro Wagen sind insgesamt in Serie geschaltet). Das System fährt nur, wenn beide Wagen in Fahrtposition geschaltet sind. Die Wagen sind mit zwei sogenannten trambolhos (Rollgestellen) am Kabel befestigt, auf jedem dieser Gestelle hat es vier pneumatisch betätigte Bremsschuhe, die von oben und unten auf die Z-förmigen Metallprofile, die den Kabelkanal begrenzen, wirken. Dazu kommen noch je eine konventionelle manuelle Klotzbremse je Rad. Das System ist auf Notbremsung bei Verlust der Seilspannung ausgelegt: Die pneumatische Bremse in den trambolhos wird ausgelöst und die elektrische Spannung wird abgeschaltet, was ebenfalls die pneumatische Bremse auslöst.
Der Unfallshergang begann mit einem Seilbruch im bergseitigen trambolho des Wagens 1 (der oben stehende). Das Seil war für eine Verwendung von 600 Tagen ausgelegt und hätte demzufolge erst 263 Tage nach dem Unfall ersetzt werden müssen. Der Stromunterbruch wurde danach ausgelöst, aber bis zum Erscheinen des Berichts (3 Tage nach dem Unglück!) war noch unklar, ob die pneumatische Bremse automatisch ausgelöst wurde. Es sei aber davon auszugehen, dass die Bremse sehr schnell durch den Fahrer ausgelöst wurde. Und dann steht da ein Satz den ich direkt zitieren möchte: "(...) in the current configuration, the brakes do not have sufficient capacity to stop the cabins in motion without their empty masses being mutually balanced by the connecting cable. Therefore, the existing brakes does not constitute a redundant system in case of a failure in the connecting cable." (S.5) Also "(...) im jetzigen Aufbau habe die Bremsen nicht genügend Bremsvermögen (Kapazität) um die Kabinen in Fahrt zu bremsen, ohne dass ihre Massen durch das verbindende Seil ausgeglichen wird. Deshalb stellen die vorhandenen Bremsen kein redundantes System im Falle eines Seilbruchs dar."
Ob mit "current"/"jetzig" gemeint ist, dass das Bremssystem verändert wurde, ist aus diesem vorläufigen Bericht nicht ersichtlich
Grüsse
Ursin
****** alle meine Bilder und Texte verfügbar nach cc-by-nc-sa
im in #8 verlinkten Bericht findest du auch Illustrationen zu den Sicherungsanlagen. Solltest du Hilfe bei der Übersetzung brauchen, kannst du mich gerne anschreiben
Grüsse
Ursin
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Aus diesem Grund habe ich noch zum Ende meiner Lehre bei Ford in Köln angefangen, Kurse für technisches Englisch an der Volkshochschule zu besuchen. Hat sich wirklich gelohnt.
bin wohl des Englischen mächtig und fasse, nochmal zusammen , was Antrieb und Bremse betrifft:
Jedes Fahrzeug hat 2 Fahrmotoren, die Motoren der beiden Fahrzeuge sind in Reihe geschaltet und über die 2 Stromabnehmer ist gewährleistet, dass sie nur gemeinsam laufen können.
In der bergseitigen Umlenkrolle ist ein elektrischer Schalter integriert, der bei Seilriss (Verlust der Seilspannung) die Spannung abschaltet.
Abschalten der Fahrspannung bedeutet Aktivierung der pneumatischen Bremse.
Die pneumatische Bremse wirkt mit Bremsbelägen auf die Unter- und Oberseite der oberen Z-Profil Schienen in denen das Zugseil läuft. Diese pneumatische Bremse ist die Betriebs- und Notbremse.
Es gibt eine zusätzliche mechanische Bremse, die als Feststellbremse auf die Räder wirkt.
Das Not- und Betriebsbremssystem ist von seiner Auslegung her nicht in der Lage, einen nicht am Gegengewicht hängenden Wagen abzubremsen.
Eine Absturtzsicherung für die einzelnen Wagen gibt es nicht.
Dass es keine Absturzsicherung gibt, kann ich so im Bericht nicht lesen, es ist nur der Verweis da, dass die Bremsen in ihrer "current configuration" nicht einen Wagen zum Stillstand bringen können und dass sie deshalb kein redundantes Sicherheitssystem darstellen. So wie es formuliert ist, könnte im Laufe der Ermittlungen festgestellt werden, dass das ursprünglich definierte pneumatische Bremssystem die Funktion einer Fangbremse hätte haben können, wenn nicht gewisse Parameter verändert worden wären. Eine solche Spekulation macht der vorläufige Bericht natürlich nicht mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen
Grüsse
Ursin
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ich versuche bewusst, den aktuellen Stand der Informationen zusammenzutragen und Spekulationen zu vermeiden. Danke für alle Informationen, die hier zusammenkommen.
Letzte Info ist, das man erstmalig eine andere Seilbauart verwendet hat. Der Aufbau von reinem Stahlseil wurde auf Stahlseil mit Faserkern geändert. Es wird vermutet, dass sich unter Last und Druck das Volumen des Stahlseiles reduziert und es somit aus der Einspannstelle herausgezogen wurde.
Ein vorläufiger Bericht ist publiziert worden, die englischsprachige Version wird bei SRF direkt verlinkt.
Die vorläufigen Ergebnisse sind: Das Seil war nicht den betriebseigenen Normen entsprechend, was im Einkauf unbemerkt blieb. Aber Seile vom gleichen Typ sind seit mindestens drei Jahren bei beiden Standseilbahnen im Einsatz (seit 20.12.2022 bei Glória und seit 22.03.2023 bei Lavra), ob der Unfall geschah, weil das Seil nicht den Normen entsprach, ist aber nicht abschliessend geklärt.
Bei den Wartungsvorschriften und -vorgehen gibt es verschiedene Lücken. Sowohl in Dokumentation, als auch in Training und Vorgehen.
Vermutlich wurde eine Notbremsung nach Seilriss bei Erstellung der Bahnen getestet, bis jetzt konnte das aber nicht über Dokumente nachgewiesen werden. Die Bremseinrichtungen wurden bei der Elektrifizierung der beiden Standseilbahnen 1914 und 1915 abgeändert. Generell sei aber die Einstellung bei den Wartungs- und Betriebsangestellten, dass die Sicherheit der Bahn alleine am Seil hänge, deswegen würden die Seile auch nach einer unüblich kurzen Zeit ausgetausch (600 Tage).
Es gibt keine abschliessende Beurteilung der Ursachen, sondern es wurden einzelne Faden aufgenommen und denen wird nur nachgegangen
Grüsse
Ursin
****** alle meine Bilder und Texte verfügbar nach cc-by-nc-sa
Noch ergänzend: Das Gewicht der Wagen ist unklar. in verschiedenen Dokumenten werde das Gewicht mit 14, 18 und 19 Tonnen angegeben, was mit Änderungen in den letzten 100 Jahren zusammen hängen könne. Ein Schritt in der Untersuchung werde sein, den Wagen 2 zu wägen, um einen verlässlichen Wert zu bekommen
Grüsse
Ursin
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